Mauerfall im Lycée
„Die Mauer muss weg!“, „Macht die Mauer auf!“ und „Visafrei bis Hawaii!“ war am Vormittag des 12. November in den Fluren des Lycée International zunächst noch recht zögerlich und dann immer lauter zu vernehmen. Da staunte manch ein Schüler oder französische Kollege nicht schlecht, als der freie Durchgang zu den Klassenräumen beziehungsweise zu den Lehrerzimmern an diesem Morgen durch eine Mauer aus Kartons versperrt war. Diese hatten die 12.-Klässler unter Anleitung ihrer Kunstlehrerin Frau Brunerie und mit Unterstützung von Frau Lebrun, der Initiatorin des Projekts, noch am Nachmittag vor dem langen Wochenende mit Fotos von der Berliner Mauer beklebt und nach Unterrichtsende heimlich, still und leise aufgebaut. Wer nun an diesem Vormittag von „Ost“ nach „West“ wollte, musste zunächst an den Grenzwachen vorbei und eventuell eine Zeitverzögerung in Kauf nehmen. Nicht zu jedermanns Freude…
Zumindest den älteren Schülern der DST und allen, die an dem vorhergehenden Wochenende die Nachrichten verfolgt hatten, war klar, worum es sich bei dieser Aktion handelte – bereits eine Woche zuvor hatten die Klassen 9 bis12 in verschiedenen Fächern im Unterricht darüber gesprochen, was an diesem geschichtsträchtigen 9. November vor 30 Jahren passiert war – aber nicht nur das: Da wurden Plakate zur Umweltpolitik in der DDR erarbeitet – ein Thema, für das die Schüler von heute schon deutlich sensibilisiert sind – aber auch, unter welchen Bedingungen Menschen in der DDR wohnten, lebten, großwurden, arbeiteten oder reisten und wie die Menschen in Ost und West damals und heute zum Fall der Mauer und zur deutschen Einheit stehen und welche Hintergründe ihre Bewertung haben könnte.
Nach diesen ersten Einblicken konnten die Schüler gespannt den Vortrag von Herrn Bühler zum sogenannten „Tunnel 57“ verfolgen (siehe Bericht über die Veranstaltung im Rahmen von DST Kulturelles) als auch die Podiumsdiskussion am Freitagvormittag, die neben dieser Veranstaltung einen Höhepunkt und den Abschluss der zwei Projektwochen bildete, die unseren Schulalltag bereicherten. Unter der Moderation von Frau Lebrun hatten die Schülerinnen und Schüler schließlich zwei Schulstunden lang Zeit Herrn Bühler, Herrn Wenzel (in Westberlin aufgewachsen) und ihren LehrerInnen Frau Coutant, Frau Walter und Herrn Voigt (alle drei in der ehemaligen DDR aufgewachsen) ihre persönlichen Fragen zum Thema Mauerfall zu stellen. „Wie war es, Jugendlicher in der DDR zu sein?“, „Wohin konnte man tatsächlich reisen?“, „Wie präsent war die Mauer im Alltag?“, „Haben Sie sich eingeschränkt gefühlt?“, „Wie lassen sich die Wahlerfolge der AfD in den neuen Bundesländern erklären?“ und natürlich „Wie haben Sie selbst den Mauerfall erlebt?“ waren nur einige der Fragen, die kontrovers beantwortet und diskutiert wurden – und vor allem Eines zeigten: Es gibt nicht die „eine“ Geschichte. Und: Schulbücher können Systeme erklären – und Zeitzeugen, was Individuen daraus machen.
Anne Gallwitz